Urlaubskrimis

 
 
 
 
 
 

Die Kleinsten weinen, die jugendliche Menge johlt, die Erwachsenen staunen und schütteln den Kopf. Der Sprung ins Wasser kam einer Detonation gleich, erzeugt eine Flutwelle, die alle Badenden in Bewegung setzt. Dann taucht ein gewaltiger Körper bis zur Hälfte aus dem Wasser und bewegt sich träge zum Beckenrand. Ich kann den Blick nicht abwenden und bin fassungslos, wie ich einen Cluburlaub buchen konnte. Die bebilderten Versprechen von Ruhe und Erholung im Katalog werden sich für mich hier nicht einlösen.

Ein Kriminalroman liegt schwer auf meinem Schoß, die aufgeschlagene Seite ist mit Wassertropfen bespritzt. Bevor ich ihn weglegen kann, werde ich Zeuge einer weiteren Arschbombe, die wie die erste, das Poolwasser bis zu den Liegestühlen spritzen lässt. Dabei zieht sich das Wasser zunächst zur Stelle des Einschlages, um dann als pilzförmige Fontäne aufzusteigen und Aufmerksamkeit zu erregen. „Hey, können Sie nicht aufpassen“, rufe ich dem Spaßvogel zu, ohne gehört zu werden.

Mehrere Kinder umkreisen den gewaltigen Körper und spritzen ihn nass, was ihn nicht stört, weil er es schon ist. Das bunte Treiben im Becken ist ein Gewusel aus Bewegungen und Geräuschen. Ich würde selbst gerne ein paar Bahnen schwimmen, aber die vielen Badegäste machen es unmöglich. Es gibt Schwimmer, die sich rücksichtslos eine Schneise durch die Menge schlagen würden, die körperliche Hindernisse und empörte Blicke ignorieren. Mir wird schon unwohl bei dem Gedanken, dass ich aus Versehen jemanden im Wasser berühren könnte oder durch das Ausatmen winzige Wassertropfen in fremde Gesichter pruste.

Die Sonne und das Wasser scheinen die Badegäste zu entspannen. Ein Rudel Kinder verlässt zusammen mit dem Koloss das Becken und ich vermute, dass es sich um eine Familie handelt. Sie haben ein halbes Dutzend Liegestühle mit bunten Handtüchern belegt und trocknen sich ab. Während ich sie beobachte, sie verpflegen sich aus mehreren Kühltaschen, die wie Munitionsdepots zwischen den Liegestühlen stehen, fällt ein Schatten auf mich, gefolgt von einer Frage. „Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“.

Ich nicke wortlos und sehe, wie eine Silhouette eine Badetasche neben mir abstellt. Beim zweiten Hinsehen erschrecke ich. Der Mann hat mich offensichtlich nicht erkannt, aber ich kenne ihn. Er ist ein guter Bekannter meiner Eltern und Sparkassendirektor in meinem Heimatort. Ich habe ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, aber es besteht kein Zweifel. Noch erstaunlicher ist seine Begleitung. Eine junge Frau, schätzungsweise halb so alt wie er, die nicht seine Ehefrau ist, oder zumindest nicht die, die ich kenne.

Die Frau richtet die sich widersetzenden Liegestühle mit mehren Handgriffen aus. Der Direktor ist einen Schritt zurückgetreten und scheint nachzudenken, hat einen Finger an seine Unterlippe gelegt und schaut auf den Pool. Er ist groß, wirkt überlegen, als wüsste er etwas, was sich nur ihm erschließt. Diese Haltung kenne ich und sie erinnert mich an eine lang zurückliegende Geburtstagsfeier mit großer Gesellschaft bei ihm zuhause. Wir Kinder spielen im Garten und sind überrascht aufgrund der plötzlichen Stille. Wie ich später erfahre, kommt seine Ehefrau aus einer sehr wohlhabenden Familie, es ist aber er, der durch seine Distinguiertheit den Unterschied macht. Er steht am Kopf eines Tisches und die Gäste hören ihm fasziniert zu. Seine Stimme lässt die Kinder ihr Spiel vergessen. Alle sind in den Bann dieses Mannes gezogen, wie er mit einem Lächeln und tiefer Überzeugung, die Zuhörer umfängt und erst entlässt, wenn er es will.

Die Sonne brennt auf meiner Haut. Ich hatte mich vor dem Frühstück eingeschmiert, habe die Sonnencreme wohl auf dem Zimmer vergessen. Die junge Frau neben mir hat ihre Salbung gerade beendet und stellt eine Flasche mit Sonnenöl zwischen unsere Liegestühle. Sie zu fragen, ist mir unangenehm, aber im Urlaub versuche ich über derartige Zurückhaltungen hinwegzukommen. „Entschuldigen Sie, könnten Sie mir mit etwas Sonnencreme aushelfen“, frage ich und deute dabei auf meinen weißen Körper. Ohne mich anzuschauen, gibt sie mir die Flasche und streckt sich auf der Liege Richtung Sonne aus. Ihre Gleichgültigkeit nimmt mir letzte Zweifel und ich reibe mich mit dem Öl großzügig ein.

Außer dem profanen Wunsch nach Erholung kann ich zwischen mir, dem Sparkassenleiter, seiner Begleitung und dem Grobian auf der anderen Seite keine Gemeinsamkeiten finden. Alle Menschen sind wohl aus dem selben Grund hier, verstehen aber jeder etwas anderes darunter. Ein Halbstarker taucht unmittelbar vor mir einen kleinen Jungen immer wieder mit dem Kopf unter. Am Beckenrand machen zwei pubertierende Schönheiten seit einer Ewigkeit Selfies. Der Bademeister sitzt versteinert auf seinem Hochstuhl, als wäre er hinter der verspiegelten Sonnenbrille eingeschlafen. Die junge Frau neben mir hat die Haare jetzt zu einem Pferdeschwanz gebunden und widmet sich ihren Fußnägeln. Dabei schaut sie immer wieder Richtung Pool auf die andere Seite, beobachtet die lärmende Großfamilie mit ausdruckslosem Blick, länger, als es sich gehört.

Der Sprungturm am anderen Ende des Beckens schüchtert mich ein. Ich habe mir vorgenommen, meine Angst vor der Höhe in diesem Urlaub zu überwinden. Das Buch lege ich zur Seite und rappele mich auf. Mit gerader Körperhaltung versuche ich der Herausforderung zu begegnen. Der Aufstieg über etliche Treppenstufen lässt mich an Wolkenkratzer, Fallschirme und Hubschrauber denken. Oben angekommen wird mir schwindlig. Ich halte mich am Geländer fest und versuche mich zu beruhigen. Langsam gehe ich auf dem Brett nach vorne, das mit einem glänzenden Film überzogen ist. Es ist rutschig. Der Mut, den ich unten auf dem Liegestuhl noch hatte, ist in der Höhe verloren gegangen. Ich habe jetzt Angst.

Überlegen Sie noch?", höre ich einen Mann hinter mir sagen. Die Stimme gehört dem Riesen, der Wassermassen in Bewegung setzen kann. Scheinbar hat er von hier oben noch größeres vor. "Einfach runter und den Spaß genießen", rät er mir und drängt sich an mir vorbei. Ich stelle mir die Welle vor, die sein Eintauchen verursachen wird. Bis die Fluten sich beruhigt haben, werde ich etwas Zeit haben, kann meinen Mut sammeln und mir ein Beispiel an ihm nehmen, was nicht einfach erscheint. Er geht zügig an die Spitze des Brettes und breitet die Arme aus. Unerwartet kommt er ins Straucheln. Sein linkes Bein rutscht über die Kante des Sprungbrettes, er verliert das Gleichgewicht und schlägt mit dem Körper auf das Brett. Dieses schwingt nach unten und befördert ihn dann einen halben Meter nach oben. Er dreht sich unbeholfen und knallt mit dem Hinterkopf auf die Brettspitze. Da sein Körper der Schwerkraft schon ausgeliefert ist, zieht es ihn nach unten und kurz danach vernehme ich einen platschenden Aufschlag, der sich dieses Mal ganz anders anhört.

Das lärmende Treiben unter mir beruhigt sich. Der Mann braucht sicher Hilfe, ist vielleicht bewusstlos. Ich taste mich auf dem Brett nach vorne, spüre Alarmbereitschaft, den Drang, eine Grenze zu durchbrechen. Mit vorsichtiger Drehung, die Hand noch ausgestreckt am Geländer, schiebe ich mich langsam vor. Mit einem Ruck springe ich mit geschlossenen Augen seitlich vom Brett ins Ungewisse. Auch ich rutsche aus, verliere kurz das Gleichgewicht, bin aber schon im freien Fall und tauche Sekunden später ins Wasser ein. Es dauert einen Augenblick bis die kleinen Bläschen im Wasser verschwinden und ich mich orientieren kann. Die gedämpften Sinne unter Wasser erzeugen eine irreales Bild.

Ein Körper treibt nahe des Grundes und trübt das Wasser gemäß der Farbkreislehre purpurfarben. Weitere Personen tauchen zu ihm hinab, versuchen sich in der Bergung, gestikulieren aufgebracht. Ich erkenne die Badehose des Bademeisters, der schnell wieder auftauchen muss, um Luft zu holen. Auch der Bankdirektor bewegt sich mit kräftigen Zügen nach unten, hält kurz vor mir inne. Im Wasser mit Schwimmbrille nimmt sein Gesicht eine andere Form an und ich bin mir nicht mehr sicher, ob er der ist, für den ich ihn halte. Keiner der Schwimmer ist erfahren mit Rettungsmaßnahmen. Sie behindern sich, zerren am schwerfälligen Körper, müssen mit ihren untrainierten Lungen immer wieder nach oben.

Der kräftige Körper hat sich scheinbar an einem Ablaufgitter verfangen. Der Banker hat eine erstaunliche Ausdauer, das hat ihm beruflich sicher genutzt. Er zieht das Ungetüm an den Gliedmaßen, an den Bermudashorts, umfängt den Torso von hinten mit beiden Armen, als wolle er mit ihm kämpfen. Oder drückt er ihm damit die Luft aus den Lungen, stemmt ihn gegen das Gitter, welches einen Unterdruck erzeugt und den schwerfälligen Körper nicht mehr freigibt? Ich bekomme Panik, tauche nach oben und schnappe nach Luft. Die Badegäste sind mit entsetzten Gesichtern am Beckenrand aufgereiht. Neben mir hat sich der Bademeister erschöpft auf den Beckenrand gehoben und hält eine Hand schmerzverzerrt auf die Brust.

Ich bin bis zu den Treppenstufen getrieben und halte mich keuchend am Geländer fest. Bin ich Zeuge einer Intrige, eines Verbrechens geworden oder bilde ich mir das ein? War das Sprungbrett für mich präpariert, weil ich ein Pärchen gesehen habe, dass es so nicht geben sollte? Musste der rücksichtslose Koloss, der mir zunächst unangenehm schien und jetzt mein Mitleid hat, warum auch immer, aus dem Weg geschafft werden? Für einen Moment schließe ich die Augen und stellte mir vor, ich wäre nicht im Urlaub, nicht im Wasser und nicht in Kenntnis der vielen Kriminalgeschichten, die ich in meinem Leben gelesen habe. Dann gestehe ich mir ein, dass die Realität spannender sein kann als jede Illusion. Wahrscheinlich ist es einfach die Hitze, die mir einen Streich spielt. Und bevor ich mich mit einem Ruck aus dem Wasser ziehe, sehe ich die rot lackierten Fußnägel meiner Liegestuhlnachbarin vor mir. Unschuldig lächelt sie zu mir herab und hält, spurensicher in ein weißes Handtuch eingeschlagen die Sonnenölflasche, die ich eben noch benutzen durfte.