Gemeinsamkeiten

 
 
 
 
 

Sie sitzen gemeinsam an den entgegengesetzten Enden eines Sofas. Er hat die langen Beine weit nach vorne ausgestreckt, den Kopf nach hinten gelehnt und die Arme dahinter verschränkt. Sie hat sich unter einer schutzbietenden Wolldecke zusammengekauert, die Beine an sich gezogen und den Blick hinter ihren zugedeckten Knien halb versteckt. Sie wirken wie ein ungleiches Paar, er in ausgelassener Haltung wartend auf das was kommt, sie gebannt und angespannt, mit unruhigem Atem, nervös mit den Fingern an ihrer Lippe zupfend. 

Auf dem Bildschirm läuft eine Krimiserie, dahinter befindet sich eine große Fensterfront. Wenn es im Wohnzimmer abends dunkel wird, so wie jetzt, blickt man auf die unzähligen Lichter einer Großstadt, ihre Gebäude und Straßen, wie ein geordneter Schwarm von Glühwürmchen. Die Scheibe ist dick und schirmt die Bewohner von den lauten Geräuschen der Stadt ab. Kein lärmender Verkehr, keine Sirene, kein Gespräch, Seufzer oder Schrei kann sie durchdringen. Und doch verbirgt sich in den dunklen Ecken der Stadt, das Abbild ihres abendlichen Ablenkungsmanövers, Verbrechen, Gewalttätigkeiten, Morde. 

Sie sehen dasselbe, sprechen kein Wort miteinander und denken unterschiedlich. Sie vertieft sich in die kriminalistischen Details der Fälle, hat nach wenigen Minuten eine Theorie, einen Verdächtigen, kann selbst komplexe Informationen strukturieren und zusammenfügen. Als Kind wollte sie zur Polizei, war Klassensprecherin und Schiedsrichterin, später wollte sie Anwältin werden, dann in die forensische Medizin. Ein Leben für die Gerechtigkeit, das war immer ihr Traum.  “Wer glaubst Du, war es?” fragt sie in den Raum hinein ohne eine Antwort zu erwarten. 

Er ist fasziniert von dem perfekten Verbrechen. Dem kleinsten Fehler bei der Planung oder Ausführung einer Straftat begegnet er mit Unverständnis. Er ist ein Pedant, der sich im Leben alles durch Fleiß, Wille und  Skrupellosigkeit erarbeitet hat. Bei jeder Straftat und ihrer anschliessenden Aufklärung ist er auf der Seite der Täter. Wie erreicht man sein Ziel, verhindert Spuren, täuscht andere, kommt damit davon. Der Zweck heiligt alle Mittel, gerade nicht im Guten, sondern in der bösen Absicht. So kommt man im Leben weiter, so hat er es auf das Sofa dieses Luxusappartements im  30. Stockwerk geschafft. “ Das war dumm”, quittiert er eine Unachtsamkeit des Täters, die ihm nicht passiert wäre. 

Die Serie neigt sich dem Ende und beide sind in ihren eigenen Gedanken versunken. Gleich werden Sie sich müde ins Bett begeben und Seite an Seite in den Schlaf fallen. Er weiss nicht, dass sie ihn seit Monaten überwacht, seine Emails und Nachrichten liest, seine Bewegungen aufzeichnet, seine Termine kennt. Sie hat keine Ahnung, dass er einen Plan ausgetüftelt hat, sich von ihr zu trennen. Nicht in dem er weggeht, sondern wie er sie spurlos verschwinden lässt. All das ahnt man nicht, wenn man sie so ruhig und friedlich nebeneinander liegen sieht. Beschützt durch die große Glasscheibe, hinter der die Stadt jetzt auch langsam zur Ruhe kommt, bleibt es ein Rätsel, was sie zu dem gemacht hat, was sie sind, wie es soweit hatte kommen können. Wie sie jemals hatten zusammenfinden können.