Nachrichten

 
 
 
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Ich stehe mit dem Rücken zur Wand eines großen Gebäudes und beobachte die vorbeigehenden Menschen. Neben mir sehe ich den Schatten einer Person auf einer Mattglasscheibe, die als Silhouette durch die Sonne auf ein blaues Glas geworfen wird. Mit etwas Fantasie könnte dies ein springendes Einhorn sein, ein Strauß voller Blumen, die Tentakel eines gefährlichen Meerestieres. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich einen Kopf, der in Richtung eines rechteckigen Gerätes in der Hand der Person geneigt ist. Der Schatten bewegt sich nicht, nur ab und zu erkenne ich, wie die Hand der Silhouette etwas unruhig wird, als würde sie über das Gerät streichen.

Von Zeit zu Zeit bewegen sich Passanten zwischen mir und dem Schatten an der Wand. Die Köpfe dieser Menschen sind ebenfalls geneigt. Sie schreiten schnell an mir vorbei, als haben sie Wichtigeres zu tun, als eine Silhouette an der Wand zu beobachten, darüber nachzudenken, wodurch sie zu Stande gekommen ist oder was sie darstellt. Dadurch entgeht ihnen, dass sie ein Abbild dieses Schattens sind, einen kleinen Bildschirm in der Hand, auf den sie fortwährend starren, so als würden sie Anweisungen erhalten, wie sie sich zu verhalten haben oder wohin sie sich bewegen sollen.

Obwohl ich von all dem nichts sehe, offenbart sich hier eine zweite Welt, die virtuelle, die alles miteinander verbindet. Millionen von Nachrichten, die wie ein unsichtbarer Insektenschwarm durch die Lüfte schwirren, unzählige Bilder, die nur für wenige Sekunden einen oberflächlichen Betrachter finden, bevor sie in der Unendlichkeit von digitalen Archiven verschwinden und geduldig auf einen erneuten Abruf warten. Neuigkeiten, die gar nicht so neu und dringlich sind und nach wenigen Sekunden auch nicht mehr aktuell, Aufgaben, die auch ohne automatisierte Erinnerung oder stetige Wiederholung erledigt werden könnten. Alles für Außenstehende unsichtbar und doch immer um uns und präsent.

Während ich die Szenerie beobachte, vibriert mein Smartphone plötzlich in der Hosentasche und ich werde gewahr, dass auch ich in beiden Welten existiere. Bevor ich es in die Hand nehme und entsperre, denke ich kurz an das, was mich erwartet, und was die Folge sein könnte. Eine persönliche Nachricht, eine Erinnerung, ein Anruf oder eine Neuigkeit, über die ich informiert werden wollte? Eine Mitteilung vom Tod eines Bekannten, den man länger nicht gesehen hat, aber immer mal wieder kontaktieren wollte? Die Geburt eines Kindes, die sich zwar schon angekündigt hatte, deren genauer Zeitpunkt aber ungewiss war? Eine beendete Beziehung, gefolgt von einem geblockten Kontakt, der jede Kommunikation unmöglich macht und einfach nur hingenommen werden muss? Nachrichten über die nicht aufzuhaltende weltweite Ausbreitung einer infektiösen Erkrankung, die nicht nur mein Leben nachhaltig verändern wird?

Mich überkommt eine gewisse Müdigkeit. Ich stelle mir vor, ich kann dem Drang widerstehen auf das Display zu schauen. Der Sperrbildschirm zeigt eine große grünblaue Welle, so wie die Glasscheibe vor mir, in die ich jetzt eintauche. Nicht weil ich Informationen von ihre ablese, sondern weil ich mich schwerelos in sie fallen lasse, die leuchtenden Farben dieser unergründlichen Welt unter Wasser genieße, die mich umgebenden Geräusche immer dumpfer werden, bis ich nur noch ein gleichmäßiges Strömen wahrnehme, meinen Sinnen vertraue und keine Inhalte oder Bedeutungen mehr suche, als wäre ich auf einer Erkundungsreise ohne Bestimmung, in einem Zustand des Schwebens ohne Richtung oder Zweck, ohne Sender und ohne Empfänger.