Tiefenleid

 
 
 
 
 
 

Er hat seine Zähne seit Wochen nicht geputzt und morgen ist es endlich so weit. Die Zahnarzthelferin, in unschuldigem Weiß, wird ihm das pelzige Gefühl nehmen. Sie wird die Zwischenräume akribisch sondieren und alle Partikel und Brocken, die sich dort einst verloren haben, entfernen. Das Zahnfleisch wird an der einen oder anderen Stelle zurückgeschoben, jede Verdorbenheit entdeckt und jedes Versteck enttarnt. Es wird länger dauern als sonst und so hat er es sich ausgedacht. Sie wird ihm ganz nahe sein, sich um ihn kümmern, wie er es noch nie von jemandem erfahren hat, ihre ganze Aufmerksamkeit wird sie ihm schenken. 

In den letzten Monaten hat er abgenommen. Die bleibenden Geschmäcker im Mund haben ihm den Appetit verdorben. Die Sensoren auf seiner Zunge sind erschöpft, sehnen sich nach einer Pause oder einem Neuanfang. Wenn er den Mund öffnet, dringt ein stechender übel riechender Geruch nach oben zu seiner Nase. Als Verursacher kann er nur einen Bruchteil der abscheulichen Wirkung wahrnehmen. Für alle anderen muss es unerträglich sein.

Die dunkle Farbe seiner Zähne steht im Gegensatz zu seiner übrigen Erscheinung. Er ist gut aussehend, athletisch, hat dunkelblondes, kräftiges Haar, leuchtende Augen, eine glatte Haut und elegante feingliedrige Finger. Abends, wenn er im Bett liegt und nicht schlafen kann, denkt er an die Menschen, die in den Spiegel schauen. An den unheimlichen Drang, es immer wieder mit sich und dem Selbstzweifel aufzunehmen. 

Mit Wörtern ist er nie zurechtgekommen. Schon als Kind war er verschlossen, die Schule fiel ihm schwer, er hatte keine Freunde. Die anderen Kinder zogen ihn damit auf, wie er Wörter aussprach, wie langsam er formulierte. Sie kamen einfach nicht so heraus, wie er wollte. Er bewegte die Lippen, schaute die Buchstaben an, aber sie sagten ihm nichts. Es waren einfach ineinandergreifende Striche und Kringel, unbedeutende Gemälde. 

Für den Termin beim Zahnarzt muss er seine Wohnung verlassen. Das gefällt ihm nicht. Das Chamäleon im Glaskasten beobachtet ihn stumm. Er hat es vor zwei Jahren im Internet bestellt. Ein stummer Zeuge, der durch seine Verwandlungsfähigkeit fasziniert. Ihm immer wieder klar macht, was er nicht kann. Nie im Einklang mit seiner Umgebung, abgetaucht in die Versenkung, immer derselbe. 

Den Weg zur Praxis legt er zu Fuß zurück. Er geht zügig, den Blick auf den Boden gerichtet und den Kopf umgeben von Schmetterlingen, die ihm das Gefühl von Schwerelosigkeit geben. In der steril eingerichteten Praxis angekommen, sagt er kein Wort. Die billige Plastikkarte mit seinem Bild zeigt er unaufgefordert. Er muss nur kurz warten und befindet sich nach wenigen Momenten in einem Liegestuhl. Die Sonne ist eine gleißend helle, mittig verspiegelte Lampe. Er stellt sich vor, er liege an einem einsamem Strand. Ein weißer Engel erscheint aus dem Wasser und kommt langsam und lächelnd auf ihn zu. Zwischen ihnen gibt es etwas Vertrautes, eine Art stabiles Fundament, witterungsbeständig. Der Engel beugt sich zu ihm und sucht seinen Mund. 

Eine weiche Stimme holt ihn zurück in die harte und sterile Funktionalität. Die Arzthelferin hat ihn begrüßt und teilt ihm die üblichen behandlungsrelevanten Floskeln in einer ihm unverständlichen Sprache mit. Dann nähert sie sich mit einem kleinen Spiegel und einem spitzen Haken seinen Zähnen. Dies ist der Zeitpunkt für Offenheit und Ehrlichkeit. 

Als er seinen Mund öffnet weicht die Zahnarzthelferin kurz zurück. Sie seufzt tief und überprüft die Position ihres Mundschutzes, als wäre heute eine besondere Gewissenhaftigkeit gefragt. Dann beginnt das Großreinemachen, das akribische Abarbeiten des Pflichtenheftes, an dessen Ende er wieder präsentabel sein soll. Ein Schaben hier, ein Ziehen dort. Sie sagt nichts und das gefällt ihm. Es ist der Kampf zwischen Konzentration und Ekel, ihrer Professionalität und den Sinnen. 

Sie hat keine Ahnung, dass die Vernachlässigung seiner Mundpflege, Teil eines Planes war, der in dunklen Nachtstunden aus tiefgründiger Sehnsucht entstanden ist. Sie kommt ihm näher, beugt sich über ihn, berührt seine Schulter. Er kann ihr Parfüm riechen und erinnert sich an vergangene Termine. Sie ist rechts von ihm, dann wieder links, für kurze Zeit auch über ihm. Eine Haarsträhne kitzelt seine Schläfe. Mit zunehmender Dauer stellt sich anonyme Vertrautheit ein. Als gäbe es nur diesen Moment der aufrichtigen Hingabe und vollkommenen Erfüllung. 

Nach einer Ewigkeit fordert sie ihn auf, auszuspülen. Er würde das Wasser am liebsten trinken, so trocken und verzehrt fühlt sich sein Mund an. Als die Flüssigkeit um die Zähne zirkuliert, spürt er kleine, beunruhigende Widerstände. Er erleichtert sich ins Waschbecken und bestaunt das Ergebnis. Kleine Brocken in dunklen, gedeckten, herbstlichen Farben. Er drückt die Spülung erneut, aber ohne Aussicht auf Erfolg. Sie kleben an der Keramik, genießen das Rampenlicht, trotzen seiner jetzt aufkommenden Scham.

Die Helferin hat sich abgewendet, aber eine Fröhlichkeit umgibt sie. Das beschwingt ihn und er denkt plötzlich an gelöste Mathematikaufgaben, ein zutreffendes Horoskop, den verdienten Lohn nach harter Arbeit. Dann dreht sie sich zu ihm und lächelt, als wolle sie sagen, da musst du dir schon mehr einfallen lassen, so kriegst du mich nicht rum, probier es mit dem Gegenteil. Komme mit perfekten Zähnen zur Behandlung, die ich trotz intensivster Inspektion nicht behandeln muss, sondern nur bewundern kann, die mir in Erinnerung bleiben, die ich nicht mehr vermissen will. 

Dann gleitet sie auf dem Hocker zum elektronischen Terminplan. Der Zeitraum zwischen den Terminen ist zu lang, sagt sie, sie sollten öfter kommen. Das versteht er auf unterschiedliche Weise, macht sich kurz Hoffnung, bevor die Enttäuschung ihn überkommt und stammelt kaum hörbar durch seine jetzt glänzenden Zähne:“Wie wäre es mit morgen?“